Nachruf auf Charlotte Selver
- verfasst von Helga Hoenen und Ingrid Wiltschek
Am 22. August 2003 ist unsere Lehrerin Charlotte Selver im Alter von 102 Jahren in ihrem Heim bei San Franzisco im Kreis ihrer engsten Freund/innen und Schüler/innen gestorben.
Mit ihrer Arbeit „Sensory Awareness“ übte sie
einen entscheidenden Einfluss auf das „Human Potential Movement“ und die
Humanistische Psychologie aus.
Aspekte ihrer Arbeit flossen in viele der
heute existierenden Methoden der Körperarbeit und Psychosomatik ein. Sie
hat in den über 80 Jahren ihrer Tätigkeit Tausende von Menschen in den
USA, Mexiko und Europa tief berührt und angeregt, unter ihnen
einflussreiche Persönlichkeiten wie den Psychoanalytiker Erich Fromm,
den Zen-Philosophen Alan Watts und den Begründer der Gestalttherapie
Fritz Perls.
In den 20er Jahren begegnete sie in Berlin Elsa Gindler, die in ihren
Kursen zusammen mit ihren Student*innen erforschte, wie die natürlichen
Anlagen des Menschen auch im Erwachsenenalter entfaltet werden können.
Bis zu ihrer Emigration nach New York 1938 studierte sie mit Elsa Gindler und dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby und baute den Kontakt in
den 50ern wieder auf.
In den USA war diese Arbeit zunächst unbekannt. Charlotte Selver baute
sich eine eigene Praxis auf, unterrichtete an verschiedenen
Forschungsinstitutionen und arbeitete mit Psychoanalytikern zusammen.
Mit Alan Watts begann sie in den späten 50er Jahren auch in Kalifornien
zu unterrichten. 1963 gab sie ihren ersten Workshop im Esalen Institut,
der Wiege des Human Potential Movement. In den 70ern zog sie nach
Kalifornien in die Nähe von San Franzisco. Dort entwickelte sich ein
enger Kontakt zum San Franzisco Zen Center (von Suzuki Roshi begründet),
der bis an ihr Lebensende bestehen blieb. Charles Brooks, ihr
Lebensgefährte und der Autor von „Erleben durch die Sinne (Sensory
Awareness)“ unterrichtete mit ihr bis zu seinem Tod 1991 weltweit, u.a.
in Deutschland und der Schweiz. Erst im Frühjahr 2003, nur wenige Monate
vor ihrem Tod, zog sie sich vom aktiven Unterrichten zurück.
Charlotte Selver erforschte ihr ganzes Leben, was es heißt, durch und
durch lebendig, jederzeit präsent und reaktionsbereit dem Leben
gegenüber zu sein, sowohl in angenehmen wie fordernden Situationen.
„Life is not always strawberries with cream, sometimes you have to eat dry bread“, sagte sie immer wieder.
(Das Leben hält nicht immer nur Erdbeeren mit Sahne für uns
bereit, manchmal müssen wir auch trockenes Brot essen.)
Viele Grundideen des Yoga stimmen im Kern mit ihrer Arbeit überein: die
Schulung der Wahrnehmung und Präsenz, das achtsame, erforschende und
gewaltlose Üben, das Verwandeln beengender Muster zu mehr Offenheit und
Toleranz, die Steigerung der Lebensqualität und -freude. Um einer
Einengung und Dogmatisierung ihrer Arbeit vorzubeugen, hat sie daraus
nie eine Methode entwickelt. Sie lebt weiter durch die Menschen, die
sich davon berühren ließen und im Unterricht durch die von ihr
autorisierten „Leader“.
Auch in uns hat sie tiefe Spuren hinterlassen und wir erinnern uns in
Dankbarkeit an sie.
Helga Hoenen, Sport- und Feldenkrais-Pädagogin, Sensory Awareness
Leader, Dozentin in der Yogalehrausbildung an der Yogaschule Tübingen
Ingrid Wiltschek, Diplompädagogin, Yogalehrerin und -ausbilderin,
Leiterin der Yogaschule Tübingen, langjährige Schülerin von Charlotte
Selver und ihrem Mann Charles Brooks.
Weitere Infos zu Charlotte Selver im Internet
www.jacobygindler.ch
www.sensoryawareness.org